Maria und Natalia Petschatnikov, Anja Michaela Kretz – GESTERN HEUTE MORGEN
31.08. – 17.11.2018
Zurück zur ÜbersichtGESTERN HEUTE MORGEN
Anja Michaela (früher Anja Wiebelt)
Maria und Natalia Petschatnikov
Vernissage: 30. August 2018, 18 Uhr
Ausstellungsdauer: 31.08.-17.11.2018
Öffnungszeiten: DI-FR 10-18 Uhr, SA 12-16 Uhr
Die Stern-Wywiol Galerie zeigt neue Arbeiten ihrer Galeriekünstlerinnen Anja Michaela (früher Anja Wiebelt) und Maria und Natalia Petschatnikov (MNP).
Auf den ersten Blick scheinen die beiden Positionen wenig gemein zu haben, denn MNP arbeiten gegenständlich und Anja Michaela (früher Anja Wiebelt) abstrakt. Bei genauem Hinsehen zeigen sich jedoch verblüffende Parallelen. Beide spüren dem Phänomen der Erinnerung nach, die wandelbar und trügerisch ist und aus der Vergangenheit ins Heute und Morgen wirkt.
Anja Michaela stellt in der Ausstellung eine neue Werkserie vor, die an Musikinstrumente erinnert. Und tatsächlich bestehen die Werke aus Metallteilen, die zur Herstellung von Blasinstrumenten verwendet werden. Die Künstlerin verarbeitet diese zu neuen „Instrumenten“, kombiniert disparate Einzelteile, verlängert sie, lässt sie sich winden – fast so, als seien sie froh, ihrer Bestimmung zu entkommen und sich nun frei zu entwickeln: Partner zu finden, neue Klänge zu erproben, den Raum zu erobern … Dabei sind die neuen Objekte so perfekt gearbeitet, dass man sie als glaubhaft empfindet. Ihre Windungen sind teils labyrinthisch und verwirrend, ganz wie bei realen Musikinstrumenten, die man aus der Erinnerung kaum richtig nachzeichnen kann. So sind Anja Michaelas Werke auch eine Metapher für die sich verselbständigende Erinnerung. Ihre Instrumente lassen Töne im inneren Ohr des Betrachters entstehen, sie tragen unsere Erinnerung an Musik in sich. Diese und andere Werke ihres vielschichtigen, poetischen Œuvres werden in einer raumfüllenden Inszenierung präsentiert.
Maria und Natalia Petschatnikov stellen ihr Projekt PABALTYS vor. Sie zeigen erstmals einen animierten Film, dem mehr als 3000 Handzeichnungen zugrunde liegen. Der Ursprung dieses Projektes liegt in der Wiederentdeckung eines alten Super-8-Films, der ihre Besuche bei den Großeltern auf dem Land in Litauen wiedergibt, als sie selbst noch Kinder waren. In Folge dieser Entdeckung entstanden zunächst Zeichnungen, die die realen Geschehnisse wie Filmstills abbilden, sowie Zeichnungen erinnerter Szenen. Später reisten MNP zurück an den Ort ihrer Kindheitssommer und gingen auf Spurensuche. Der Film handelt vom Plan und der Umsetzung dieses Vorhabens und ihren Entdeckungen. Dieser sehr persönliche Ansatz spiegelt das fundamentale Gewicht der Kindheitserinnerungen, die uns prägen, wieder – das Festhalten an ihnen, ihren Verlust, die Suche und die Sehnsucht nach ihnen, ihr Wirken ins Heute und Morgen. PABALTYS wird in einer Gesamtinstallation aus Film, Zeichnungen, Objekten und Dioramen zu entdecken sein.
Sehr verehrte Damen und Herren,
GESTERN HEUTE MORGEN ist eine Ausstellung, die sich gefühlt zwischen Momentaufnahme und Langstreckenlauf bewegt.
Wir zeigen neue Werke unserer Künstlerinnen Anja Michaela und Maria und Natalia Petschatnikov, die stilistisch sehr gegensätzlich sind und die doch sehr viel gemeinsam haben. Es geht den Künstlerinnen um die Erforschung und Beschreibung eines zentralen Phänomens unserer Existenz – der Erinnerung. Also etwas, das man sich als Ereignis im GESTERN wie einen Punkt auf einem Zeitstrahl vorstellen kann und dass dann weiterwirkt ins HEUTE und ins MORGEN, in die Zukunft.
Dazu möchte ich Ihnen eine persönliche Geschichte erzählen:
Ich habe wunderschöne Jahre meiner Kindheit in einem verschlafenen Dorf an der Ostseeküste verbracht. Es gab dort nur eine Straße, unbefestigt, vor dem Haus war Wasser und dahinter Hügel mit Heide. Es gab ein Sägewerk, wo es wunderbar roch und wo dicke Pferde die Stämme über die Straße zogen. In der Heringssaison fuhren die Kutter am Haus vorbei und die Frauen der Fischer standen in langen orangenen Kitteln in kleinen Buden am Wasser und pulten die Fische aus den Netzen. Ich habe diesen Ort seit dem Tod meiner Großmutter vor über 20 Jahren nicht mehr besucht. Als ich vor einiger Zeit mit meinem Vater über diesen Ort sprach und dass ich doch mal wieder hinfahren könnte, war seine Antwort: „Brauchst du nicht machen. Sieht aus wie in Blankenese.“
Ich habe also beschlossen, diesen Ort nicht zu besuchen. Er hat mich geprägt, bestimmt bis heute ein landschaftliches Ideal, bestimmt mein Ideal von Kindheit und auch von Familie. Ich möchte nicht, dass mein inneres Bild dieses Ortes, seine Gerüche und seine Atmosphäre von den neuen Gegebenheiten überlagert werden.
Die Erinnerung ist das, was übrigbleibt vom gelebten Leben. Sie ist ein Schatz, manchmal auch eine Bürde. Beides kann sich verändern und ein Eigenleben führen.
Anja Michaela und Maria und Natalia Petschatnikov wenden sich in ihrer Arbeit genau diesen Prozessen zu: Wie genau funktioniert sie denn, die Erinnerung? Und wie kann man das in eine Form bringen, das Verblassen, das Glorifizieren, die Unschärfe, die Hinzudichtungen und die Weglassungen?
In der Ausstellung von Anja Michaela fällt zuallererst die brandneue Werkserie der Musikinstrumente ins Auge. Anja Michaela genießt derzeit ein einjähriges Residenzstipendium in Paris. Sie hat dort einen Musikinstrumenten-Bauer kennengelernt. Die Firma stellt ihr Teile von Blechblasinstrumenten zur Verfügung. Daraus formt sie eigene Instrumente. Immer mit wenigstens zwei Trichtern, immer geht es um Kommunikation, um ein Verhältnis zweier oder mehrerer Stimmen. Das einzige Werk mit nur einem Trichter heißt DIVA – hier scheint die Kommunikation auch wirklich nur in eine Richtung zu laufen.
Haben Sie einmal versucht, aus dem Stehgreif eine Trompete zu zeichnen? Tun Sie es doch einmal, sie werden sich wundern, wie wenig genau ihre Erinnerung an so einen Gegenstand ist. Mundstück und Trichter, dazwischen irgendwie geschwungen… Wesentlich mehr dürfte den wenigsten in Erinnerung sein. Wie ist es dann erst mit komplexeren Anordnungen? Oder mit kausalen Zusammenhängen oder gar Gefühlen? Meist haben wir nur ein paar Versatzstücke – Trichter, Mundstück – und deren Verbindung ist unklar, gern auch veränderlich oder wunderlich. Anja Michaela findet für diese vielschichtigen Prozesse überraschende und einleuchtende Formen. Ihre Arbeiten überzeugen durch eine klare künstlerische Aussage und erfreuen das Auge durch Anmut und handwerkliche Präzision. Anja Michaela hat in einem früheren Leben das Goldschmiedehandwerk erlernt – Material- und Technikbeherrschung sind immer hoch erfreulich.
Dasselbe lässt sich für die Arbeit von Maria und Natalia Petschatnikov (MNP) sagen. Ihr Kernmedium, wenn Sie so wollen, ist die Malerei, die sie virtuos beherrschen. Daneben zeichnen sie hervorragend, sie arbeiten plastisch, sie machen Rauminstallationen und sie machen auch Filme, neuerdings.
Vor über einem Jahr haben MNP alte Aufnahmen und Filme aus der Kindheit wieder entdeckt. Sie dokumentieren die Sommer mit den geliebten Großeltern in Pabaltys, einem winzigen Dorf in Litauen, mitten im Wald.
Schnell kommt der Wunsch auf, diesen Ort nach Jahrzehnten wieder zu sehen. Ein Projekt nimmt Gestalt an: Wir fahren nach Pabaltys – eine Reise ins Ungewisse, ins Gestern und Heute.
Als künstlerische Technik wählen MNP die Zeichnung aus, ein ebenso schnelles wie vielseitiges Medium. Vor, während und nach der Reise entstehen insgesamt über 3000 Zeichnungen, die unterschiedliche Perspektiven bieten. MNP zeichnen mit Aquarellkreide auf halbtransparenter Polyesterzeichenfolie, das sieht fast wie Filmmaterial aus. Es gibt Blätter, die sind mit Wasser bearbeitet und haben eine durchscheinende, verschwimmende Optik, fast wie altes Filmmaterial. Andere haben einen sehr klaren, trockenen Strich und wirken viel realer und klarer, fast dokumentarisch. So können sie unterschiedliche zeitliche wie emotionale Ebenen darstellen: die heutige Erinnerung an die Kindheit, die realen Bilder der Kindheit, die Bilder der erlebten Reise und mit all dem auch die Gefühle, die sich mit diesem Ort und diesem Lebensabschnitt verbinden
Aus über 3000 Handzeichnungen haben die beiden ihren allerersten Film gemacht und uns als Galerie dazu gebracht, unsere allererste Videoarbeit zu zeigen.
Ich lade Sie herzlich dazu ein, sich den Film und überhaupt die gesamte Ausstellung abseits des Vernissage-Trubels anzuschauen und ihr eigenes Pabaltys zu finden. Dann hören Sie in Ihrem Innern sicher auch die Schwingungen, die die Arbeiten von Anja Michaela assoziieren – vielleicht sogar Musik!
Dr. Kathrin Reeckmann