Willi Siber – Exakte Phantasie
11.03. – 25.06.2016
Zurück zur ÜbersichtUnbedingt anfassen! Das ist der erste und nie nachlassende Impuls, den Willi Sibers abstrakte Arbeiten ausstrahlen. Schimmernde Chromlack-Oberflächen und zartfarbige, filigrane Epoxidharz-Formen sprechen den Tastsinn ganz unmittelbar an, sie geben den Werken Transzendenz und Emotionalität. Seine Stahlskulpturen, Holzobjekte und Tafelbilder, die in vielen öffentlichen Sammlungen wie der des deutschen Bundestages vertreten sind, passen in keine Deutungs-Schublade. Stets lotet Willi Siber die Grenze zwischen Materialerfahrung und -möglichkeit aus, lässt geometrische Formen ins Anthropomorphe spielen, vergrößert Mikrostrukturen zu geometrischen Mustern, verbindet Nägel zu luftigen Farbwolken und lässt tonnenschwere Stahlarbeiten ätherisch schweben. Lustvoll demontiert Willi Siber künstlerische Ordnungsprinzipien und eingeübte Seh-Erfahrungen und erfindet sich immer wieder neu.
Touch me! This is the first, never-relenting impulse stimulated by Willi Siber’s abstract works. Gleaming, painted-chrome surfaces and delicate, pastel-colored forms made of epoxy resin directly address our sense of touch and invest the works with transcendence and emotionality. His steel sculptures, wood objects and panel paintings do not fit into any interpretive pigeonhole. Willi Siber is always exploring the boundary between the experience and possibilities of the material, pushing geometrical forms into the anthropomorphic, enlarging microstructures into geometrical patterns, joining nails into airy clouds of color and causing multi-ton steel works to hover ethereally. Willi Siber delights in dismantling principles of artistic order and accustomed visual experiences, and he continually reinvents himself.
Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Kunst zu erleben. Wenn Sie in eine Ausstellung gehen, werden Sie Ihre ganz spezielle Variante anwenden. Vielleicht gehen Sie gern die von den Ausstellungsmachern konzipierte Runde, vielleicht gehen Sie prinzipiell anders herum, vielleicht schauen Sie sich nur die Hauptwerke an oder es ist Ihnen dort zu voll und Sie bevorzugen die ruhigen Ecken mit den etwas intimeren Werken.
Ich habe einen anderen Vorschlag für Sie: Überprüfen Sie, in welchem Alter der Künstler oder die Künstlerin die einzelnen Werke geschaffen hat. Ich verspreche Ihnen, es ist höchst aufschlussreich!
Unsere westliche Kultur ist ja verrückt nach Jugend: Überall herrscht das Ideal der Jugendlichkeit, in Mode, Lifestyle, Kino, in der Technik, auf dem Arbeitsmarkt. Eigentlich ein Paradox, da unsere Gesellschaft zahlenmäßig längst von den über 50-Jährigen dominiert wird und wir erst am Anfang eines tiefgreifenden demografischen Wandels stehen. Kein Paradox ist es, dass das menschliche Gehirn so beschaffen ist, dass wenn man diesem Diktat glaubt und also das Älterwerden als Makel oder Schwäche begreift, auch tatsächlich das Selbstwertgefühl sinkt. Die Lebensentwürfe verlieren an Anspruch, der geistige Horizont schrumpft, man wird im negativen Sinne das, was die Gesellschaft unter einem alten Menschen versteht.
Für die Kunst kann ich Ihnen heute Abend mit Sicherheit sagen – das ist falsch! Schlagen Sie eine x-beliebige Kunstgeschichte auf und schauen Sie sich an, wie viele Künstler über 50, 60, 70 oder sogar über 80 so richtig gut sind: In der alten Kunst etwa Tizian, Rembrandt, Goya. In der klassischen Moderne Picasso, Käthe Kollwitz und Hannah Höch, in der zeitgenössischen Kunst Louise Bourgeois, Maria Lassnig oder Gerhard Richter. Schauen Sie gern auch einmal umgekehrt nach, wer raketengleich gestartet ist, Kunstgeschichte geschrieben oder wenigstens den Kunstmarkt aufgemischt hat und dann mit 50 Jahren in Konvention und Langeweile versunken ist ...
Ich freue mich sehr, Ihnen heute Abend einen Künstler vorzustellen, der gerade erst eingetreten ist in eine wunderbare Werk- und Lebensphase – Willi Siber. Willi Siber macht seit 40 Jahren Kunst, und er wird immer besser. Immer wieder in seiner Künstlerkarriere hat er sich neu erfunden, hat Erprobtes und Erfolgreiches hinter sich gelassen und ist aufgebrochen in unbekanntes Terrain. Neugier, Experimentierfreude und Selbstkritik, gepaart mit künstlerischer Sicherheit und Erfahrung sind der Garant für eine beeindruckende Kunstproduktion, die immer noch Fahrt aufnimmt und von der wir noch viele Jahre wunderbare Werke erwarten dürfen. SEIT MORGEN hieß eine Ausstellung von Willi Siber einmal und ich finde das eine hervorragende Charakterisierung für die positive Ausstrahlung und den von Forschergeist getragenen schöpferischen Impuls dieses Künstlers.
Mindestens genauso treffend ist auch der Titel unserer Ausstellung: EXAKTE PHANTASIE. Willi Siber ist Bildhauer, Maler, Konstrukteur, Tüftler und Oberschwabe. Er erforscht mit wissenschaftlicher Akribie und Genauigkeit die physischen Möglichkeiten seiner Werkstoffe und transformiert diese Werkstoffe in Gebilde, die reine Vorstellung sind, die nichts abbilden außer sich selbst und die doch in sich so perfekt ausgedacht sind, dass sie in unserer Vorstellung nicht anders sein können, wie sie eben sind.
Lassen Sie mich das an einigen Beispielen zeigen: Die große Stehende (Holz) ist aus zwei ovalen Körpern zusammengesetzt, ganz klar abstrakt gestaltet. Ihre Proportion und Art der Anordnung zueinander haben deutlich anthropomorphe Anklänge – vielleicht erinnern Sie die archaischen Figuren der Osterinsel oder klassische Porträtbüsten? Diesen starken figurativen Eindruck kontrastiert Willi Siber, indem er die Oberfläche mit unregelmäßigen Holzzapfen besetzt und das Ganze weißt. So nehmen wir als Betrachter im Nahbereich vor allem die wunderbare Reliefqualität und Materialität der Skulptur wahr, sind also auf Tuchfühlung mit ihr. Wenn wir weiter weg gehen, ändert sich dieses Gefühl und wir nehmen das Monumentale, Zeitlose, Archaische wahr. Zart und achtunggebietend, intim und majestätisch – Willi Siber eint Gegensätze spielerisch und sicher zugleich.
Oder die andere große Stehende hier in der Ausstellung – aus Stahl und Chromlack. Sie hat einen extremen optischen und haptischen Reiz. Die perfekte Chromlackierung lässt ihre Rundungen sinnlich erstrahlen, sie erscheint präsent und gleichzeitig entrückt im Glanz – wie in der Autowerbung, wo die Karosserien verführerisch funkeln und die Kamera bei schmeichelnder Musik ganz nah am Blech entlangfährt. Die Stehende folgt in ihrem Aufbau den klassischen Gesetzen von menschlicher Proportion, von Stand- und Spielbein, von offener und geschlossener Form. Sie schöpft ganz selbstverständlich aus dem Fundus der Kunstgeschichte – denken Sie etwa an antike Skulpturen, die all diese Gestaltungsprinzipien durchspielen. Ziel hier ist es, eine Formvereinfachung zu finden, die ins Zeitlose, letztlich Archaische führt. Vom Bekannten ins Unbekannte, vom Vertrauten zu Neuem. Sibers Kunst lässt sich gut mit dem Begriff des Transfers beschreiben: Er deutet Formen und Materialien um, er überführt sie in eine neue Realität, er eignet sich die Wirklichkeit auf seine Weise neu an.
Willi Siber hat einen starken malerischen Anteil in seinen künstlerischen Genen, den er bei seinen Epoxidarbeiten exzessiv auslebt. In vielen Arbeitsschritten, zeitlich genauestens aufeinander abgestimmt, entstehen aus Kunststoffplatten, Holz, Karton, Nägeln Objekte, die ganz klar dreidimensional sind und die erst im letzten Schritt, mit dem Auftragen des pigmentierten Epoxidharzes, eine abschließende Bildfläche erhalten. Diese farbigen Wolken schweben auf einem feinen Nagel-Relief, stofflich und abgehoben zugleich. Willi Siber nennt diese Objekte Tafelbilder. Er beschwört also die klassische Tradition herauf, nur um sie im nächsten Atemzug lustvoll zu brechen durch seine Mischung aus Malerei und Bildhauerei.
Willi Siber ist Oberschwabe, meine Damen und Herren. Dort in Oberschwaben ist die Landschaft lieblich und abwechslungsreich, das Klima ist mild, die Menschen sind lebenslustig und katholisch. Vieles in der Kunst von Willi Siber – die kalkulierte Überwältigung des Betrachters, die sinnliche Pracht, der extreme Oberflächenreiz, die Transformation der eingesetzten Materialien und das Aufheben der Grenze zwischen den einzelnen Kunstgattungen – vieles in der Kunst von Willi Siber ist in den wunderbaren oberschwäbischen Barockkirchen und –bibliotheken zu finden. Sinnliche Wahrnehmung als Mittel, Gott zu erfahren.
Welche Wahrheiten vermittelt Willi Siber uns armen Hamburgern mit seinen exakten Phantasien? Finden Sie es heraus, lassen Sie sich verführen. Nutzen Sie die Gelegenheit, den Künstler auszufragen und empfehlen Sie uns weiter – Hamburg braucht mehr exakte Phantasie!
Dr. Kathrin Reeckmann