Sibylle Waldhausen – Menschen und Räume
17.11.2012 – 30.03.2013
Zurück zur ÜbersichtSchach! Herausfordernd und selbstbewusst stellt sie sich ihm entgegen. Er ist perplex. Sie scheint ihn überrascht zu haben und spielt genüsslich ihre Karte aus. Das ausgestellte Becken, die rausgestreckte Brust – alles deutet auf ihre lässig demonstrierte Überlegenheit und auch wenn man ihre Gesichtszüge nicht erkennen kann, so spürt man förmlich, mit welcher Kampfeslust sie ihn mustert. Er ist ihr zugewandt, überlegt, was er tun kann, das Fragezeichen steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er scheint zwischen Fassungslosigkeit und Schicksalsergebenheit hin und her zu schwanken. Sie macht einen Schritt auf ihn zu, er kann nicht ausweichen. Kann er sich retten?
Sibylle Waldhausen ist eine scharfsinnige Beobachterin. In ihrer ersten Einzelausstellung in der Stern-Wywiol Galerie zeigt uns die Berliner Künstlerin (geb. 1963) die Veränderungen und Herausforderungen der globalisierten und digitalisierten Welt auf, indem Sie uns den damit einhergehenden Werte- und Rollenwandel bewusst werden lässt. Sibylle Waldhausen hat die Fähigkeit, Dinge auf den Punkt zu bringen und eindringliche Bilder für abstrakte Begriffe zu finden. Der medialen Welt begegnet sie dabei mit einem uralten Material – Bronze – und traditioneller plastischer Handarbeit.
Rede zur Vernissage der Ausstellung "Menschen und Räume" Sibylle Waldhausen von Dr. Kathrin Reeckmann, 16.11.2012
Der Hamburger Hbf, nur drei Minuten Fußweg von unserer Galerie entfernt, ist eine Welt im Kleinen. Hier kreuzen sich die Wege aller:
Die Wege der Eiligen und der Langsamen, der Forschen und der Ziellosen, der Zuspät-Kommenden und der Wartenden, der Reisenden und der Gestrandeten. Dazu kommt der Sound der Großstadt aus Stimmen, Motorengeräusch und Hupen, die Beschallung mit klassischer Musik und manchmal noch Straßenmusik.
Der Taxistand zwischen Bahnhof und Schauspielhaus ist da eine Insel der Ruhe und Ordnung. Die Wagen sind akkurat aufgereiht, die Fahrer lesen oder stehen im Gespräch zusammen. Und ganz oft kann man erleben, dass einige von ihnen Schach spielen:
- Mülleimer dient als Tisch, darauf ein klappbares Brett, eine rote Stullenbüchse (sie ist immer rot) dient als Behälter für die Figuren
- Männer darum herum in konzentrierter Entspannung, Jüngere und Ältere
Inmitten der anonymen Szenerie des Bahnhofs geben die Schachspieler ein Bild der Intimität und der Kultur, auf das ich mich immer freue.
Es ist das Schachspiel als uralte, anspruchsvolle Kulturtechnik, analog und verbindend.
Es ist das Schachspiel als Bild derer, die es spielen, als Bild der menschlichen Gesellschaft: die Rollen sind verteilt, können auch manchmal gewechselt werden, alles hängt mit allem zusammen: die Starken und die Schwachen, Angriff und Verteidigung.
Das Schachbrett ist ein fest umrissener Raum, in dem sich die Figuren bewegen
Die Position, an dem die Schachfiguren stehen, sagt etwas aus über ihre Handlungsmöglichkeiten, über ihre Funktion im Ganzen.
Das Schachbrett mit seinen Figuren erscheint als Metapher für unsere Gesellschaft.
Und das ist auch das Thema der Bildhauerin S. Waldhausen:
Wie eine Ethnologin erforscht sie das Verhalten der Spezies Mensch, interessiert sich für Handlungsmuster und Hierarchien, analysiert Haltungen und Strukturen.
Das Schachspiel und die vielen anderen Arbeiten zum Thema Schach, die Sie hier sehen, sind dabei nur eine Facette, sich diesem Thema anzunähern.
SW braucht nicht viel Personal, um die Vielfalt und die Abgründe des menschlichen Daseins zu erforschen: Ein Mann, eine Frau, als Requisit höchstens mal eine Krone. Sie arbeitet allein mit Proportionen, Körpersprache und Oberfläche als Darstellungsmittel.
Zum Beispiel:
• Die Königin, die Haltung bewahrt, trotz aller Anfeindungen.
• Der biblische Statthalter Pilatus, der sich auf seinem hohen Thron festklammert und sich mit seiner wissentlich falschen Entscheidung selber klein macht.
• Oder der „Kerl mit Hund“ der durch das aggressive Tier seine eigene Unsicherheit kaschieren möchte.
• Oder das „Unbeholfene Paar“ das mit seiner Lust erst noch zueinander finden muss.
SW ist eine Künstlerin, die im klassischen Medium der Bildhauerei ganz aktuelle Themen aufgreift.
Sie interessiert sich für die neuen Rollenverteilungen zwischen Mann und Frau, fragt nach Hierarchien, thematisiert Gefühle wie Einsamkeit, Verlorenheit, Macht, Ohnmacht, untersucht Gruppen und die ihnen innewohnende Dynamik.
Ihre Arbeitsweise ist klassisch: Sie formt in Wachs oder Gips ihre Figuren, trägt Schicht um Schicht auf und bearbeitet die Oberfläche mit Fingern und Werkzeugen. Ihre Plastiken sind feingliedrig und schmal, die Oberfläche ist ein feinnerviges, bewegtes Relief. SW steht damit in der Tradition der klassischen Moderne, in der Tradition Auguste Rodins, der mit den Händen malt, und Alberto Giacomettis, der eine Form für das Mensch sein an sich und für die Eingebundenheit der Skulptur/des Menschen in den Raum suchte
Die Figuren Waldhausens sind auch klassisch in dem Sinne, als dass sie nackt sind. Ihre Nacktheit ist dabei von einer derartigen Selbstverständlichkeit, dass man es kaum registriert. Das große, das eigentliche Thema der Bildhauerei, der menschliche Körper, ist es, was SW interessiert. Dabei sind sie gänzlich von ihrer Haltung bestimmt. SW versteht es, die Beziehung des Menschen zur Welt in einer Gebärde, in einer Haltung einzufangen, kann ganze Geschichten, seien es Dramen oder Kömödien, in einem einzigen Bild einzufangen.
SW kam von der menschlichen Figur und deren Fundament, dem Sockel, vor einigen Jahren auf das Thema Haus und beschäftigt sich seitdem immer wieder mit der gebauten Umwelt des Menschen.
Indem sie die Stadt als plastische Form begreift, wird diese zum Medium, in dem sich aktuelle Themen wie der permanente Zwang zur Veränderung, die zunehmende Geschwindigkeit des Lebens oder die Vereinzelung des modernen Menschen künstlerisch umsetzen lassen.
Ich möchte Sie aufmerksam machen auf die Arbeit „Tetris“, benannt nach dem berühmten Computer-Spiel, wo geometrische Formen von oben herabfallen und vom Spieler in Sekundenschnelle zu einem geordneten Ganzen geordnet werden müssen. Bei SW sind es abstrakte Haus-Kuben, die scheinbar ohne innere Ordnung auf- und ineinander getürmt sind, und die nur eine schmale Lücke für das kleine Kirchlein lassen, das sich halb ängstlich halb selbstbewusst hineindrängt.
Oder auf die Betonhäuser, angefertigt in klassischer Antragstechnik, innen mit Blattgold belegt. Sie zeigen die Behausung des Menschen als schützende Hülle, abweisend und anonym nach außen, innen mystisch strahlend und gleichzeitig auf schwankendem Boden stehend, halb im Tanz, halb im Erdbeben befindlich.
Meine Damen und Herren, SW ist eine Künstlerin mit ganz besonderen Fähigkeiten. Sie findet eindringliche Bilder für unsere Gefühlslagen, Hoffnungen und Ängste. Sie reflektiert das Verhältnis von Sein und Schein, hinterfragt unsere Gewissheiten und hält uns den Spiegel vor – eine der schwierigsten und spannendsten Eigenschaften von Kunst. Und sie beweist in ihren Arbeiten Humor, ganz subtil und manchmal versteckt. Das aber muss ich Ihnen nicht erklären, das werden Sie selber entdecken.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören und wünsche Ihnen einen anregenden Abend.